Die Genossenschaft entdecken! Folge 3
Genossenschaft und wechselseitige Ausrichtung – um diesen Grundsatz nachvollziehen zu können, ist ein wenig Hilfe erforderlich.
Erstmal schlage ich im Handbuch nach. Miserable Idee: da stoße ich bloß auf ein sprachliches Dornengeflecht mit Begriffen wie Genossenschaften mit vorwiegender Wechselseitigkeit, nach außen gerichtete Wechselseitigkeit oder wechselseitige Fonds, die mich noch zusätzlich verwirren.
In meiner Verzweiflung nehme ich das Wörterbuch zur Hand und suche nach dem Begriff Wechselseitigkeit.
Schlimmer als Biologie.
Vom Gymnasium her erinnere ich mich entfernt an Verhaltensweise, bei der Akteure nach dem Prinzip ‚Wie du mir, so ich dir!‘ handeln … Reziprozität … beidseitiger Vorteil …
Ich schließe Hand- und Wörterbuch, lehne mich zurück, strecke die Beine lang und schaue aus dem wegen der großen Hitze sperrangelweit geöffneten Fenster. Ein Blumentopf, der noch keine Ahnung davon hat, welch kurzes Leben und wie viel Vernachlässigung ihm als mein Mitbewohner drohen, zeigt sich in seiner vollen Farbenpracht.
Ich nehme zur Kenntnis, dass ich sie nicht als einzige zu würdigen weiß: mit fiebrigem Flügelwirbel summen zwei Bienen um die Pflanze herum, bereit den wertvollen Nektar abzusaugen und den Blütenstaub zu sammeln. Auf diese Weise verbünden sie sich unwissentlich mit der Blume und tragen mit ihrer Suche nach Nahrung dazu bei, andere Pflanzen der selben Art zu bestäuben.
Die Biene nimmt von der Blume und die Biene gibt der Blume. Die Blume gibt der Biene und erhält gleichzeitig. Wechselseitigkeit.
Das ist der Schlüssel, um den Grundsatz vom wechselseitigen Austausch im Genossenschaftswesen zu begreifen.
Ein Mitglied erfüllt sich ein konkretes Bedürfnis und erbringt dafür eine Gegenleistung (Arbeit oder Verbrauch). Die Genossenschaft lebt und entwickelt sich, weil sie Bedürfnisse befriedigt und den Mitgliedsbeitrag als Arbeitsleistung oder Kapital in Anspruch nehmen kann.
So gesehen verlieren auch die Erklärungen im Handbuch einiges von ihrem Schrecken: zum Beispiel kann es sich bei einer Genossenschaft mit vorwiegender Wechselseitigkeit um eine Konsumgenossenschaft (zum Beispiel die Koncoop in Bozen), die ihren Mitgliedern Güter zu im Verhältnis zu den marktüblichen vorteilhafteren Preisen zur Verfügung stellt. Die nach außen gerichtete Wechselseitigkeit kommt über den gesellschaftlichen Mehrwert zum Ausdruck. Man denke zum Beispiel an Sozial- und Bürgergenossenschaften, die es sich zum Ziel gesteckt haben, weitreichende Bedürfnisse im Gemeinwesen zu befriedigen. Wechselseitige Fonds werden von Genossenschaften eingerichtet, um neue Genossenschaften zu gründen und bestehende weiterzuentwickeln.
So langsam bekommt alles Sinn. Doch die gedankliche Verbindung von den Bienen zum Genossenschaftswesen lässt noch mehr zu.
Wie der Bienenstock als im Tierreich vorbildliches gesellschaftliches Modell gilt, so vielversprechend stellt sich das genossenschaftliche Gedankengut dar.
Keineswegs zufällig schrieb der bekannte englische Philosoph und Ökonom John Stuart Mill im Jahr 1848 (1869 in deutscher Sprache) erschienen Buch Grundsätze der politischen Ökonomie: Die Zusammenschlussform, von der wir erwarten können, dass sie sich durchsetzt, wenn die Menschheit sich weiterhin verbessert, kann es nicht mit einem Kapitalisten als Oberhaupt und einem Arbeiter ohne Mitspracherecht geben, nein, Arbeitskräfte schließen sich gleichberechtigt zusammen, besitzen gemeinsam das Kapital, mit dem sie ihre Tätigkeit durchführen und werden von durch sie selbst eingesetzte und von ihnen wieder abberufene Führungskräfte geleitet. […]. Folglich ist unter den gesellschaftlichen Veränderungen in der nächsten Zukunft nichts sicherer als dass genossenschaftliche Grundsätze und Praktik fortlaufend zunehmen.
Das war’s für heute. Bis nächste Woche.