Nachfragen, Zeit schenken, zuhören
Während des Lockdowns hat die kostenlose Hotline der GestaltAkademie Bozen die Südtiroler durch die Krise begleitet.
Herr Pernter, die GestaltAkademie Bozen hat während der Corona-Krise kostenlose telefonische Beratung angeboten. Woher kam die Idee und wie wurde sie umgesetzt?
Die Idee kam eigentlich aus Österreich von der Sigmund-Freud Privatuniversität in Wien. Als österreichischer Psychotherapeut und da ich dort schon einige Summertrainings geleitet hatte, wurde ich gefragt ob ich beim Aufbau einer kostenlosen Hotline mitmachen und einen Teil meines Stundenkontingents dafür reservieren würde. Ich fand die Idee und ihren sozialen Charakter gut und wollte gleichzeitig dieses Angebot dann auch in Südtirol schnell und einfach für die GestaltAkademie auf die Beine stellen. Als Geschäftsführer der Sozialgenossenschaft kontaktierte ich eine Absolventin der Ausbildung an der GestaltAkademie; sie unterstützte mich sofort bei diesem Vorhaben, weil sie und ihr Mann sich bereits überlegt hatten, was sie zur Verfügung stellen könnten. Ihr Mann half uns dann bei der technischen Umsetzung des Angebotes. Am 22. März, also noch vor dem Sanitätsbetrieb, war unsere Hotline bereits startklar. Wir wollten in dieser Krisensituation schnell und unkompliziert helfen, nachfragen, Zeit schenken, zuhören, begleiten. Das gelang uns auch, weil viele Menschen ihre Kompetenzen und ihre Zeit schnell und kostenlos zur Verfügung stellten: die Absolvent*innen unserer Ausbildungen, die in unterschiedlichsten Bereichen in Südtirol als Counselor tätig sind, die Mitarbeiter von Complete GmbH und Sign-Studio, die technische Probleme lösten und die Journalistin Maria Lobis, die uns bei der Kommunikation unterstützt hat. Jeder hat mitangepackt und es ist ein schönes, sinnvolles, soziales Projekt entstanden.
Wie funktionierte die Krisen-Hotline konkret?
Es standen etwa zehn Therapeuten, Gestalttherapeuten, Psycholog*innen, Berater*innen, alles Mitarbeiter*innen bzw. Absolvent*innen der GestaltAkademie Südtirol für das Angebot tagsüber von 8-21 Uhr am Telefon und per Email zur Verfügung. Viele Anrufe erreichten uns von Handys oder Videocalls. Es gab für die Anrufer allerdings die Hemmschwelle, dass sie in den räumlichen Umständen des Lockdowns oft keinen Rückzugsort fanden, um in Ruhe ein privates Gespräch zu führen. Ich hatte einige Anrufer*innen, die sich vors Haus ins Auto setzten und von dort telefonierten, nur um einmal ungestört über die Probleme reden zu können.
Welchen Anklang fand die Initiative, wie viele Anrufer hatten sie insgesamt oder täglich?
Die Initiative hatte ein sehr gutes Feedback. Wir haben keine genaue Statistik über alle Anrufe gemacht, aber schätzungsweise hatten wir im angebotenen Zeitraum etwa 380 Beratungsstunden. Das Alter unserer Anrufer*innen lag zwischen 7 bis ca. 74 Jahren, in der Mehrzahl waren es Frauen. Für einige der Anrufer*innen reichte ein einmaliges, ca. einstündiges Gespräch, andere wiederum begleiteten wir im Wochenrhythmus oder wie es eben nötig war.
Was war die häufigste “Sorge” der Anrufer?
Ich könnte kein durchgängiges Thema verorten, bei einigen waren es extreme Ängste, das Haus verlassen zu müssen („das Virus, das in der Luft ist!“) bzw. den Lockdown zu Hause bewältigen zu müssen. Bei anderen kochten Themen wie Stress, Ausbalancierung und Gestaltung des Familienlebens oder alte Beziehungsthematiken hoch. Bei manchen war eine eng getaktete Begleitung nötig, bei vielen reichte die normale wöchentliche Sitzung, wieder andere waren mit einem einzigen Telefonat bedient. Aber man kann erkennen, dass allgemein – auch mit Blick nach Österreich und Deutschland – Angst-, Anpassungsstörungen und Depressionen ganz klar zunehmen, ebenfalls Schlafstörungen, Paar- und Familienprobleme.
Wie hat das Virus Ihrer Meinung nach unsere Gesellschaft verändert, welche Mängel wurden durch die Corona-Krise hervorgehoben?
Schon während des Covid-19-Lockdowns hat mich beschäftigt, was mit mir, was mit uns auch als Gesellschaft, passiert. Es war, wie Paolo Giordano in seinem Büchlein „In Zeiten der Ansteckung“ schreibt, eine „Suspendierung des Alltags“. Die Pandemie hat Bezüge aufgezeigt zwischen Umweltverschmutzung, Nahrungsketten (siehe Fleischskandale und soziale Arbeitsbedingungen), krankgesparten, ungenügenden Sänitätsstrukturen und soziale Ungleichheiten. Letztlich hat das Virus uns schlagartig die Fragilität unserer hochentwickelten Gesellschaft vor Augen geführt. Das bedeutet auch, dass ein Impfstoff allein nicht die Lösung ist. Wir brauchen strukturelle Veränderungen. Es gilt, eine alternative Welt aufzubauen, die soziale Gerechtigkeit und Solidarität wieder mehr in den Fokus nimmt, wo der Mensch und die Natur im Mittelpunkt stehen, nicht die wirtschaftliche Interessen.
Wie kann der Gestalt-Ansatz dabei helfen?
Gestalt ist auch eine Einstellung zur Welt, dabei geht es um Sensibilität für gesellschaftliche Bezüge, um Wahrnehmungskompetenz, um den Mut zur existenziellen Auseinandersetzung und um den Fokus auf das Wesentliche. In der Gestalttherapie ist beispielsweise folgende Frage essentiell: Wie will ich, wie wollen wir leben? Das macht den Gestalt-Ansatz sehr aktuell, denn diese Fragestellung könnte die Stimmung der Wutbürger auffangen und eine neue Art der Politik einläuten. Eine Politik mit Fokus auf das Wesentliche, mit wirtschaftlicher Vernunft, ausgelegt auf soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit. Das wäre ein politischer Kompass, dessen Nadel in eine verantwortungsbewusste Richtung zeigt, gegen den nationalen und antieuropäischen Populismus, der simpelste Lösungen vorgaugelt.
Auch für den italienischen Philosophen und Gestalttherapeut Pietro Andrea Cavaleri ist Covid-19 der Ausdruck einer dahinterliegenden gesellschaftlichen Krankheit. Wir müssen also diese Komplexität und Fragilität der Gesellschaft angehen und nicht davor fliehen! Wenn wir uns zusammentun, wenn wir Prozesse initiieren, zusammen Solidarität und Dialog praktizieren und gegenseitige Anerkennung, könnten wir alle Medizin für diese krankende Gesellschaft sein.
Wie schätzen Sie die psychischen Langzeitfolgen des Lockdowns auf die Bevölkerung ein?
Ich bin kein Zukunftsforscher, verfolge aber die Entwicklung aufmerksam und beobachte genau. Univ. Prof. DDr. Christian Schubert, Mediziner, Psychotherapeut und Psychoneuroimmunologe hat schon früh die zu enge mikrobiologistische Sichtweise der „Technokratenmedizin“ kritisiert und einen evidenzbasierten Zugang zur Pandemie eingefordert: es braucht eine bio-psycho-soziale Herangehensweise, also eine stärkere Berücksichtigung von sozialen, psychologischen, kulturwissenschaftlichen Faktoren, die zur Aufrechterhaltung des menschlichen Immunsystems enorm beitragen. Ich denke, diese Aspekte werden auch in Zukunft zentraler werden. Die empfohlenen Schutz-, Hygiene- und Distanzmaßnahmen waren sehr wichtig. Allerdings gab es diesbezüglich eine bemerkenswerte Ambivalenz zwischen der Kommunikation des väterlich agierenden Landeshauptmannes, der sich meist vernünftig äußerte und im Gegensatz dazu die Ebene der Polizei oder des Vizebürgermeisters der Landeshauptstadt, die ganz anders klangen und agierten.
Ich persönlich habe während des Lockdowns gemerkt wie mir für meine psychische Stabilität, für die Aufrechterhaltung meines alltäglichen Funktionierens die Bewegung fehlte und ich bin beileibe kein fanatischer Sportler. Das Starren auf den Bildschirm bzw. aufs Handy war – in dieser Dichte und Länge – auf die Dauer sehr anstrengend. Konsequenz daraus ist, dass ich nun, wenn ich nicht in einer anderen Stadt arbeite, täglich ausgiebig Bewegung suche.